Kinder sehen anders oder: warum das Fernsehen ein unterschätztes Medium ist

Angesichts der Computerisierung vieler Lebensbereiche, was auch unsere Kinder betrifft, gerät die Problematik des Fernsehens zunehmend ins Hintertreffen der kritischen Betrachtung. Die Gewöhnung scheint hier über die Vernunft zu siegen. Waren alle Warnungen der Vergangenheit übertriebene Innovationsskepsis, nichts weiter? Was bleibt zu bedenken, wenn Kinder im Vergleich zu Erwachsenen fernsehen? Auch fürs Fernsehen gilt, dass Ergebnisse der Gerontologie nicht einfach auf Kleinkinder übertragen werden können. Dazu schreibt Prof. Martin Korte u. a.: „Während in jungen Jahren die Computer- und Internetnutzung in jedem Fall in ihrer Dauer und Intensität genauestens kontrolliert werden muss, um nachhaltige Schäden z. B. in der Konzentrationsfähigkeit zu vermeiden, zeigt sich, dass es für die Generation 65plus mit erheblichen Vorteilen fürs Gehirn einhergeht, wenn sie lernt, mit Computer und Internet umzugehen, und beide regelmäßig nutzt.“

Wenn man nämlich die Erkenntnisse aus Hirn- und Wahrnehmungsforschung sowie der Entwicklungspsychologie ernst nimmt, dann können Vorschulkinder bis ca. 6 Jahren kohärente Bildfolgen nicht als solche nachvollziehen – von schnellen Schnittfolgen ganz zu schweigen.12 Sie sehen einzelne Bilder, konstruieren sich ihre eigene Geschichte. Nebensächliches kann für ein Kind, das mit einem solchen Bild gerade etwas emotional Bekanntes verbindet, ein traumatisches Erlebnis darstellen, Ängste auslösen oder die Welt in rosaroten Farben erscheinen lassen – je nachdem, aber immer unrealistisch und für die Erwachsenen meist unbemerkt. Damit stellt sich die Frage nach dem „Mitgucken“ einerseits und dem „Reden darüber“ andererseits neu, denn zunächst einmal würde es gelten herauszufinden, was das Kind überhaupt gesehen hat. Da aber der Fernsehkonsum der Kinder von den Erwachsenen immer seltener begleitet wird, stellt sich die Frage immer seltener jemand.

In Zeiten der Computerisierung von Haushalten und Bildungsstätten wird das Fernsehen immer öfter den klassischen Medien zugeordnet. Die Gewöhnung daran scheint seine Qualität als bildbetonendes elektronisches Medium vergessen zu machen. Dabei ist dieses Faktum von enormer Bedeutung, wenn es um die kleinsten Kinder geht. Die Absetzung von Disneys ambitionierten Little Einstein-DVDs, die Kinder via Früh-TV schlau machen sollten, wirft ein Licht auf den Zusammenhang, der gerne in medienpädagogischen Ratgebern ausgeblendet bleibt: Die zu frühe Konfrontation mit flachen Bildschirmangeboten reduziert das Erleben der Kinder und fördert nicht deren Intelligenz, sondern behindert deren Entwicklung. Da in diesem Alter noch ganzheitlich – mit allen Sinnen – und in Beziehung zum anderen Menschen gelernt werden muss, hatten die DVDs nachweislich negative Auswirkungen auf die Kinder, da diese als Babys nur kurz wach sind und die wertvolle Zeit nicht adäquat genutzt werden konnte.

Während also ein Film- oder Fernsehangebot für ein 10- oder 12-jähriges Kind eine gute Ergänzung zur Erfassung der Welt sein kann, ist es für ein zu junges Kind, dessen Hirnverschaltungen sich noch ausbilden, schlicht schädlich. Mal abgesehen von der Frage der Gewöhnung an die überproportional vorhandenen Gewaltdarstellungen etwa bei Programmentscheidern, die alte Krimiserien von früher aus dem Abendprogramm auf das Nachmittagsprogramm von heute verlegen. Dies sind Entscheidungen, gegen die sich ein Publikum natürlich auch wehren kann, wenn es die Problematik und gemeinsame Ziele erkennt und verfolgt. Sonst bleibt nur die Delegation der Einführungsaufgabe an die Familien, die nicht gefragt werden. So kommt es also bei der Medienerziehung nicht nur auf das Was und Wie, sondern vor allem auf das Wann an. Darum gilt auch nicht ein Einstieg so früh wie möglich als sinnvoll, sondern tatsächlich das Gegenteil, nämlich so spät wie möglich, und dann mit Bedacht.

aus: Kapitel 2 „Kindsentwicklung als Leitfaden für die Medienerziehung“ von Schiffer, Sabine (2013): Bildung und Medien. Was Eltern den Pädagogen wissen müssen.